[sage] ITIL, ISO9000 et al.

Benedikt Stockebrand me at benedikt-stockebrand.de
Tue Sep 28 13:15:49 CEST 2010


Moin Helmut und Liste,

Helmut Springer <delta at irc.belwue.de> writes:

>> Leider kann man in Umgebungen ab einer gewissen Größe seine Arbeit
>> nicht mehr vernünftig machen, wenn es keine Dokumentation,
>> Prozesse etc. gibt.
>
> Der limitierende Faktor ist mE Komplexitaet, nicht nur reine Groesse.

beides.  Größe als solche führt dazu, dass man nicht mehr alle
Einzelheiten der Umgebung im Kopf haben kann" und macht damit
irgendwann Dokumentation notwendig.  Ein Hochregallager wird mit
zunehmender Größe nicht komplexer, macht aber -- je nachdem, wie
(un)strukturiert die eingelagerten Teile sind -- groß und macht damit
Dokumentation notwendig, ohne dass sich an den Prozessen etwas ändern
muss.

Komplexität, geht in eine ähnliche Richtung -- hier sind es die
Zusammenhänge und Verflechtungen, die "groß" werden.  Damit wird
teilweise Dokumentation notwendig, vor allem aber eben geregelte
Abläufe, damit man nicht jedesmal wieder neu über diese Zusammenhänge
und Wechselwirkungen nachdenken muss.

Das ist ein kleiner aber wichtiger Unterschied.

>> Ich habe durch die Workshops ein paar Umgebungen erlebt, die
>> einerseits sehr wohl extrem strukturiert -- ob nun nach ITIL,
>> ISO9000 oder gesundem Menschenverstand -- gearbeitet haben, aber
>> andererseits genau diese Probleme mit Schuldzuweisungen und
>> Machtkämpfen einfach nicht aufkam.
>
> Ich sehe schlicht keine Kausalitaet zwischen Prozessdefinitionen
> und derartigen Problemen.  Weder logisch, noch in meiner Erfahrung.

Womit wir wieder bei unterschiedlichen persönlichen/subjektiven
Erfahrungen wären -- meine Erfahrungen sind da anscheinend deutlich
anders als Deine.  Ich kann hier nicht in Details gehen und unschöne
Interna ausplaudern, aber ich habe gesehen, wie die Einführung von
"geregelten Prozessen" zu einem regelrechten Schlachtfeld wurde.

Das ganze ist ein psychologisches bzw. soziologisches Thema, aber
deshalb ist es trotzdem real.

> Uebrigens lassen sich mEn die Strukturierungen nach "gesundem
> Menschenverstand" idR problemlos in ITIL oder ISO9000 ausdruecken,
> wenn sie hinreichend konsistent sind.  Da einen Widerspruch
> konstruieren zu wollen deutet mE schon auf ein Missverstehen der
> Standards hin: die sind keine umzusetzende Alternative, die sind ein
> Framework zum Umsetzen der eigenen Vorstellungen und Beduerfnisse.
> Setzt offensichtlich voraus, die eigenen Vorstellungen und
> Beduerfnisse zu erfassen...

Damit kommt man aber schnell an den Punkt, wer welche Vorstellungen
und Bedürfnisse festschreibt und damit anderen aufzwingen kann.  Das
ist ein Aspekt dessen, was ich mit "Machtgebaren" meine.

>> Die Standards ignorieren meines Wissens dieses Problem (und ein
>> paar andere obendrauf) oder widmen ihnen zumindest nicht den
>> Stellenwert, der ihnen nach den vorliegenden Erfahrungen
>> eigentlich zukommen müsste
>
> ITIL, ISO9000 u.ae. sind jeweils best practises fuer einen
> definierten (Teil)Bereich, sie stellen keine vollumfaenglichen
> Handlungsleitfaeden fuer den Geschaeftsbetrieb dar.  Die Einfuehrung
> derartiger Standards hilft uU bei der Etablierung eines effizienten
> wie effektiven Geschaeftsbetriebs, ist aber weder notwendig (man
> kann alles anders machen) noch hinreichend (man muss noch eine ganze
> Menge mehr machen) dafuer.

Aus meiner persönlichen und subjektiven Erfahrung bringt aber die
systematische Einführung von formal definierten Prozessen tendenziell
eine Reihe von im weitesten Sinn sozialen Problemen mit sich, um die
man sich tunlichst kümmern sollte, auch wenn sie nicht in dem Maße wie
ich persönlich es für sinnvoll halte überhaupt angesprochen werden.

Ich sage ja nicht, dass definierte und dokumentierte Prozesse sinnlos
sind, nur sollte man bei ihrer Einführung dringend darauf achten, dass
sie nicht durch diese Phänomene kontraproduktiv werden.

> [...] Die Vorstellung, man koenne die einfach nach Handbuch
> implementieren und alles wird gut ist so verbreitet wie irrig. [...]
> Man sollte auch nicht uebersehen, dass Standards oft von Beratern
> und Zertifizierern (mit)erarbeitet werden.  Von daher sollte es
> niemanden ueberraschen, wenn sie genug Raum fuer entsprechende
> Dienstleistungen lassen 8)

Womit wir beim nächsten Problem angekommen wären.  Ich habe mal (eher
flüchtig) mit einer Umgebung zu tun gehabt, die eine erfolgreiche
ISO9000-Zertifizierung hinter sich hatten.  Die haben diese "Berater"
letztlich gezwungen, die Arbeitsweise des letzten Wachmanns und der
letzten Putzfrau^WRaumpflegerin aufzunehmen, in ISO-konforme Sprache
zu gießen und sich dann absegnen zu lassen.  Hat funktioniert, war
aber für diese "Berater" wohl eine ganz neue Erfahrung, dass sie sich
von "einfachen Mitarbeitern" eines Unternehmens sagen lassen mussten,
wie der Laden funktioniert statt umgekehrt.

Und ja, ich weiss, dass das eigentlich immer so sein sollte:-)

> Die mir bekannten Standard setzen voraus, dass es diese
> Zusammenarbeit gibt und ein funktionierendes Technik-Mgmt agiert,
> teilweise sogar explizit.

Gehen sie auch darauf ein, wie man verhindert, dass diese
Zusammenarbeit bzw. das soziale Gefüge des Unternehmens unter der
Einführung von definierten/dokumentierten Prozessen leidet?

> D'accord.  Allerdings ist Zertifizierung nochmal ganz etwas anderes
> als Prozessimplementierung...

Stimmt -- daran verdienen die "Berater" deutlich mehr, deshalb
verkaufen sie es lieber:-)

Und umgekehrt gibt es genug Kunden, die zwar die Zertifizierung haben
wollen, weil sie sonst vielleicht bestimmte Aufträge nicht bekommen
oder ähnliches, aber eigentlich am Unternehmen und den Abläufen nichts
machen wollen.

Aber das ist wirklich nochmal ein anderes Thema.

>> Umgekehrt ist es ähnlich faszinierend, wie bei manchen(!) Managern
>> mit kaufmännischem Hintergrund keinerlei Rücksicht auf elementare
>> Grundrechenarten genommen wird und offensichtlicher kaufmännischer
>> Pfusch als "Management-Entscheidung" kaschiert und bis zum
>> Rausschmiss (des Managers) oder Konkurs fortgeführt wird.
>
> D'accord, aber das hier ist ja eher keine Gruppe von Managern mit
> kaufmaennischem Hintergrund   8)

Mein Punkt ist, dass in dem Moment, wo mit solchen Klischees
rumgeworfen wird, jede konstruktive Zusammenarbeit schwieriger wird,
weil man damit Fronten schafft bzw. verhärtet.

Das Problem ist, dass hier typischerweise[!] Einzelfälle unzulässig
verallgemeinert werden und man damit implizit so tut, als ob Techniker
grundsätzlich irrational und kaufmännisch unfähig sind, als ob Manager
grundsätzlich verantwortungslos sind und sich technische
Entscheidungen anmaßen, zu denen sie nicht das nötige Wissen haben,
und so weiter.  Das passiert in großen Unternehmen, wo man sich nicht
mehr durchgehend persönlich kennt, deutlich schneller als in einem
Kleinunternehmen und ist damit ein wesentliches Problem, wenn ein
Unternehmen wächst.

Und weil ich das mal ziemlich drastisch erlebt habe, reagiere ich auf
diese Klischees entsprechend empfindlich...


Viele Grüße,

    Benedikt

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Benedikt Stockebrand, Dipl.-Inform.   http://www.benedikt-stockebrand.de/




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