[sage-ka] Forschungsprojekt mit Hilfe der deutschen SAGE-Community

Thomas Maus thomas.maus at web.de
Son Apr 15 12:46:32 CEST 2007


Am Montag, 9. April 2007 12:25 schrieb sage-ka-request at guug.de:
> ...
> Message: 1
> Date: Sun, 8 Apr 2007 13:46:13 +0200
> From: Marc Haber <mh+sage-ka at zugschlus.de>
> Subject: Re: [sage-ka] Forschungsprojekt mit Hilfe der deutschen
> 	SAGE-Community
> ...
> On Sat, Mar 31, 2007 at 10:33:52PM +0200, Torsten Scheck wrote:
> > Marc Haber wrote on 03/30/2007 09:34 PM:
> > ...
> > Ich hatte es sogar noch für den Fall von Fachkräfteüberschuss und dem
> > Wunsch nach effizienter Einstellungsverfahren eingeschränkt. Will heißen:
> > es gibt sehr viele qualifizierte (und auch nicht qualifizierte) Bewerber
> > auf eine Stelle und die Firma will sich das Geld / den Aufwand sparen
> > eine kompetente Person einzustellen, um diese zu filtern. Stattdessen
> > verlagert sie die Prüfung der Fachkompetenzen nach außerhalb und drückt
> > den Aufwand den Bewerbern auf.
>
> Auf die Gefahr hin, sich eine zertifizierte Flachpfeife zu angeln,
> während der hervorragende, aber nicht zertifizierte Fachmann sich ein
> "leider konnten wir uns nicht für Sie entscheiden" einfängt. Gerade
> bei Stellen, bei denen hoher Einarbeitungsaufwand in den Schornstein
> zu schreiben ist, wenn man sich von der zertifizierten Flachpfeife in
> der Probezeit wieder trennen muss, sollte man sich den Auswahlaufwand
> dann schon ggf. selbst machen, z.B. mit modernen Verfahren wie
> Telefoninterviews.

Kleines Beispiel (sinnvoll nur unter der Annahme, daß mir auf dieser Liste 
eine gewisse kryptographische/kryptoanalytische Fachkompetenz zugestanden 
wird ;-):
Ich hatte mich mal auf eine Stelle beworben, die genau solche 
Krypto-Grundkompetenzen forderte. Ich schied in der 
Personalabteilungsvorauswahl aus ...
Nun kannte ich Leute der Fachabteilung. Deren Nachforschung zu den 
Ablehnungsgründen ergaben:
1. kein Zertifikat
2. in keinem Projekt wurde AES erwähnt

Wer zertifiziert eigentlich die Personalauswähler???

(Wie ging's weiter? Die Fachabteilung setzte dann ein Vorstellungsgespräch 
durch. Die Personaler lehnten mich dann als "überqualifiziert" ab ...
(die regelmäßig auftauchende "Überqualifikation" als Ablehnungsgrund halte ich 
ja für vorgebliche innovative, "leading edge" HiTec-Firmen ohnehin für einen 
Offenbarungseid ;-)
)

> > Die Reaktionen auf der Liste zeigen jedoch wie umstritten dieser Einsatz
> > von Zertifizierungen ist.
>
> Und das ist gut so ;)

D'accord.

> ...
> >  Für andere Berufe gibt es ja beispielsweise IHK-Prüfungen
> >  ("Zertifizierungen"), deren Rahmenstoffpläne jedoch auch nicht immer
> >  besonders relevant sind. Wenn man sich als ITler fachlich
> >  weiterbilden will und dies auch bestätigt bekommen möchte, ist das
> >  staatliche Angebot jedenfalls recht dürftig.
>
> Das stimmt. Aber eine Schulung eines Herstellers absitzen und
> daraufhin eine Multiple-Choice-Prüfung bestehen können auch Leute, die
> in der Praxis nicht in der Lage wären, eine USB-Tastatur an einen
> Windos-PC anzuschliessen.
>
> Ich hatte letzte Woche eine Herstellerzertifizierung, die:
>
> - nicht zeitbeschränkt war
> - Hilfsmittel zuließ
> - nach Abschluß der Prüfung die Musterlösung zeigte
> - in der Wiederholung exakt dieselben Fragen noch einmal stellte
>
> Ich habe selten so eine Zeitverschwendung gesehen.

Ich hatte -- ist schon wieder ein paar Jahre her -- das Vergnügen die 
Schulungen für irgendwelche "Zertifizierten Sicherheits*" zu halten (nein, 
ich verrate nicht welche ...)

Der (vorgegebene) Abschlußtest bestand in 15 Multiple-Choice-Frage, die 
(praktisch getestet) meine Freundin parallel zum Bügeln in 15 Minuten zu >80% 
korrekt beantworten konnte -- sie ist komplett nicht IT-affin, beruflich kaum 
mit IT in Kontakt, einzige Vorbereitung: sie hört seit Jahren meine 
Management-Abstracts und "Nicht-Fach"-Vorträge, um sie auf 
Allgemeinverständlichkeit zu testen (das sie offenkundig dabei lernt, ist 
natürlich langfristig ein Problem für diesen Bügel-Test ;-)

Nun hatte ich vom Schulungsausrichter die Vorgabe, daß niemand durchzufallen 
hatte. Das führte dann zu der leicht absurden Situation, daß bei jedem Test 
über die Nutzung der (vorgegebenen) Schulungsunterlagen als Hilfsmittel 
verhandelt wurde (sinnlos, da schlecht organisiert -- daher hab' ich dann 
nach 5 Minuten nachgegeben) sowie die Prüfungsdauer (Ok, dann halt 30 Minuten 
-- wurde eh' immer überzogen ...)

Bei der Korrektur wollten die Leute mich immer umlagern -- da schmiß ich sie 
aber konsequent raus, damit ich mir in Ruhe überlegen konnte, wie ich manche 
Kandidaten jetzt noch irgendwie mittels gutmütigster Interpretation über die 
30%-Hürde drüberwuchte ...

Nun begab es sich zu dieser Zeit -- glücklicherweise scheint die 
Zertifikatssucht ja wieder abzuflauen -- daß ich tatsächlich mit diesen 
Leuten auf dem Markt um Projekte konkurrieren musste und man mir das Fehlen 
des Zertifikats ankreidete (der Hinweis, daß ich exakt für dieses Zertifikat 
ausbildete, wurde NICHT gewürdigt!!!)

Naheliegenderweise fragte ich also beim Schulungsausrichter an, ob ich nicht 
-- immerhin bilde ich ja für das Zertifikat aus, sähe ja für den 
Schulungsausrichter auch irgendwie blöd aus, wenn ich es nicht habe -- das 
Zertifikat bekommen könne: Kein Problem. Auch keine Schulungsteilnahme (an 
meinen eigenen Kursen ;-) oder Prüfung nötig -- schließlich wisse man ja, daß 
ich den Stoff beherrsche. Nur die vollen Schulungsgebühren ...

Aus diesem leicht skurrilen Erlebnis leitet sich meine EInschätzung zur 
Hauptmotivation der Zertifizierungsanbieter sowie meine eher ungünstige 
Haltung zum Thema Zertifikate ab ...


Nun noch meine 0,02€ methodische Gedanken zum Thema Qualifikation:
IMHO sind Fakten-, Theorie- und Erfahrungswissen die Basis, die Fähigkeit 
diese drei Wissensdimensionen kreativ auf unbekannte Situationen zu 
adaptieren, die Krone der Qualifikation.

Erfahrungswissen läßt sich nur m.E. nur begrenzt prüfen, da echte Erfahrung 
(im Gegensatz zu antrainiertem Verhalten und Routine -- diese sind leicht 
prüfbar) vielfach nur in langwierigen, komplexen Arbeiten zum Tragen kommt 
oder sich erst langfristig als Qualität des Arbeitsergebnisses im Sinne von 
Robustheit, Pflegeleichtigkeit, Wiederverwendbarkeit und Flexibilität, ... 
erweist.

Fakten- und Theoriewissen läßt sich recht gut prüfen, allerdings gibt es hier 
verschiedene Stufen:
- Wiedergabe (Reproduktion)
- Verständnis (Reorganisation)
- Anwendung (Transfer in unveränderter Form in unbekannte, aber analoge 
Aufgabenstellungen)

Multiple-Choice schwächelt (IMHO) schon im Bereich des Verständnisses 
deutlich.

Die letzte Stufe -- die kreative Anwendung und Kombination und 
Weiterentwicklung in völlig neuen Fragestellungen (Innovation) -- halte ich 
für  eine grundsätzliche Intelligenzleistung, die in ihrer Wirksamkeit aber 
durch die Breite und Tiefe in allen Wissensdimensionen befördert wird.
Diese halte ich in einer begrenzten Prüfung für kaum prüfbar: Kreativität (und 
notwendiges Durchhaltevermögen) benötigen Zeit, Muße und sind 
streßempfindlich -- ein abgeschlossenes Studium (oder auch ein 
anspruchvolles, innovatives Open-Source-Projekt oder eine gelöste berufliche 
Aufgabe) scheinen mir hier deutlich sinnvoller.

Vor diesem Hintergrund habe ich auch ganz grundsätzliche, methodische Zweifel 
an der Sinnhaftigkeit von Zertifikaten für die Auswahl von zumindest 
hochqualifiziertem Personal (= Innovationskraft und/oder solide Erfahrung) -- 
wie im übrigen auch an gewissen Aspekten der amerikanischen 
"Empfehlungskultur" die leicht zur Qualifikationsinzucht von Seilschaften mit 
begrenztem Wahrnehmungshorizont entarten kann, die alles Wissen außerhalb 
ihrer Kenntnis als irrelevant abtun.

ciao,

ThoMaus